Die japanische Atom-Aufsicht NRA blockiert zum ersten Mal seit 2012 das Wiederhochfahren eines Atom-Reaktors - dies auf der Grundlage der Sicherheits-Standards, die nach dem dreifachen Super-GAU von Fukushima im Jahr 2011 festgelegt wurden. Nachdem Reaktor 1 des AKW Tsuruga im April 2015 stillgelegt worden war, hatte der Betreiber-Konzern Japan Atomic Power Co. (JAP) darauf gehofft, den anderen Reaktor wieder hochfahren zu dürfen. Dem steht jedoch die offensichtliche Erdbebengefahr vor Ort entgegen.
Die Entscheidung der NRA ist ein herber Rückschlag für die japanische Regierung, die gegen die Mehrheit der japanischen Bevölkerung an der Atomenergie festhält und auch deren Anteil an der Stromversorgung Japans von derzeit 6 Prozent mit allen verfügbaren Mitteln zu erhöhen versucht. Dies ist jedoch vor allem am Widerstand der Bevölkerung und an Gerichtsurteilen bislang gescheitert.
Am heutigen Mittwoch, 13. November, gab die NRA ihre Entscheidung bekannt. Demnach konnte der Betreiber-Konzern JAP die vorliegenden geologischen Daten über eine aktive tektonische Verwerfung unter dem AKW Tsuruga nicht widerlegen. Reaktor 2 des AKW Tsuruga ist der erste Atom-Reaktor in Japan, dem die im Jahr 2013 nach dem dreifachen Super-GAU von Fukushima im Jahr 2011 eingeführte Zertifizierung nicht zugesprochen werden konnte. "Wir sind nach einer sehr strengen Prüfung zu diesem Ergebnis gekommen," sagte Shinsuke Yamanaka, Präsident der NRA.
Die Sicherheits-ExpertInnen der NRA waren bereits vor drei Monaten zu dem Schluß gekommen, daß keine Beweise die Behauptung des Betreiber-Konzerns stützen, die lokalen tektonischen Verwerfungen und die damit verbundene akute Erdbeben-Gefahr habe keine Bedeutung für die Sicherheit des Atomkraftwerks. Die NRA-Untersuchung war in den vergangenen 10 Jahren bereits zweimal beendet worden, nachdem sich herausgestellt hatte, daß JAP ungenaue und manipulierte Dokumente vorgelegt hatte. Im August 2023 hatte der Konzern einen neuen Antrag gestellt.
Die japanische Regierung hatte 2022 einen Plan zum raschen Ausbau der Atomenergie beschlossen und drängt massiv darauf, die Wiederinbetriebnahme von 23 angeblich funktionsfähigen Atom-Reaktoren zu forcieren. Der regierungsamtlichen Propaganda zufolge geht es darum, der menschengemachten Klimakrise entgegen zu wirken. Weitaus kostengünstiger wäre es hingegen, den von der japanischen Regierung rigoros gebremsten Ausbau der erneuerbaren Energie voranzutreiben.
JAP wurde im Jahr 1957 gegründet und spezialisierte sich auf die Erzeugung von Atomstrom. 1966 nahm der Konzern das erste kommerzielle Atomkraftwerk Japans, das AKW Tokai, in Betrieb. Reaktor 1 wurde im Jahr 1998 stillgelegt - der im Jahr 1978 in Betrieb genommene Reaktor 2 ist seit 2011 nicht in Betrieb, wurde aber bislang nicht stillgelegt. 2015 hatte JAP beschlossen, Reaktor 1 des AKW Tsuruga wegen mangelnder Profit-Trächtigkeit stillzulegen. Der JAP-Konzern erwirtschaftet seine Einnahmen durch die Lieferung von Strom an die fünf großen japanischen Stromversorger. Am Standort Tsuruga plant JAP den Bau der Reaktoren 3 und 4. Diese Pläne erscheinen jedoch nach der Entscheidung der NAP obsolet.
Die japanische Öffentlichkeit wurde hinsichtlich des hohen Erdbeben-Risikos erneut sensibilisiert, nachdem die japanische Halbinsel Noto am 1. Januar 2024 von einem Erdbeben der Stärke 7,5 heimgesucht wurde (Siehe unseren Artikel v. 10.01.24). In der Folge starben mehr als 400 Menschen und mehr als 100.000 Gebäude sowie zwei nahegelegene Atomkraftwerke wurden beschädigt. Die Schäden am AKW Shika wurden zunächst verheimlicht, dann aber doch publik. Zudem erwiesen sich die Evakuierungspläne für die Region als unzureichend.
In Japan waren vor dem 11. März 2011 54 Reaktoren in 17 Atomkraftwerken in Betrieb, die etwa ein Drittel des Strombedarfs deckten. In den ersten Monaten nach der Reaktor-Katastrophe waren sämtliche Atomkraftwerke abgeschaltet. "The dream that failed" (deutsch: "der gescheiterte Traum") titelte das britische Magazin Economist weitsichtig im Jahr 2012. Dabei hatte die japanische Regierung schon am 8. Juni 2011 - kaum drei Monate nach der Reaktor-Katastrophe - dem Druck der Strom-Konzerne nachgegeben und gegen den Willen einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung dem Neustart der Atomenergie zugestimmt. In dieser Zeit waren die ersten beiden Atom-Reaktoren von insgesamt 50, die noch funktionsfähig waren, wieder hochgefahren worden. Laut 'Japan Times' hatte eine landesweite Umfrage ergeben, daß 59,5 Prozent der Befragten den Neustart der Reaktoren des AKW Ohi ablehnen und nur 26,7 Prozent das erneute Hochfahren befürworten. In den drei Monaten, als sämtliche japanischen Atom-Reaktoren abgeschaltet waren, hatte sich gezeigt, daß die japanische Stromversorgung keineswegs zusammenbricht wie die Atom-Lobby immer gedroht hatte.
27 Atom-Reaktoren wurden in den vergangenen 13 Jahren endgültig stillgelegt. Heute sind von den verbliebenen 33 Atom-Reaktoren nur zehn in Betrieb. Dies sind die Reaktoren 3 und 4 des AKW Genkai, Reaktor 3 des AKW Ikata, die Reaktoren 1 und 2 des AKW Sendai, die Reaktoren 3 und 4 des AKW Takahama, die Reaktoren 3 und 4 des AKW Ohi, sowie Reaktor 3 des AKW Mihama. Damit liegt der Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung lediglich bei sechs Prozent und also bei rund einem Fünftel des Anteils vor dem 11. März 2011.
Die Pläne der japanischen Regierung, im Interesse der Atomkraft-Branche den Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung von 6 auf bis zu 22 Prozent zu erhöhen, sind wenig realistisch. Denn die alten japanischen Atomkraftwerke können nicht mehr an die international gängigen Sicherheitsvorschriften angepaßt werden und zudem ist der lokale Widerstand immer noch sehr stark. Auch die Klagen von japanischen Atomkraft-GegnerInnen vor Gericht sind häufig erfolgreich, wie eine Untersuchung der Technischen Universität (TU) München Anfang 2023 aufzeigte.
Auf der anderen Seite wurde der Ausbau der erneuerbaren Energien in den vergangenen 13 Jahren noch rigider als in Deutschland gebremst. Dabei ist Japan ein sehr windreiches Land und könnte allein mit Windkraftanlagen seinen gesamten Strombedarf problemlos decken. Auch hinsichtlich Solarenergie, Wasserkraft und Biogas ist Japan in einer komfortablen Situation - technisch betrachtet, nicht jedoch politisch.